Stellen Sie sich einmal vor, sie hätten eine weisse Leinwand und nur die schwarze Farbe zum Malen. Was könnten Sie darstellen? Sicherlich viel. Nun stehen Ihnen zusätzlich alle Graustufen zur Verfügung. In welchem Ausmass erhöhen sich Ihre Ausdrucksmöglichkeiten? Enorm.
Dem Ingenieur, der beim Entwurf eines Mechanismus eine konventionelle Variante wählt, stehen nur zwei Extreme zur Verfügung: die Glieder als ideal starre Komponenten und die rollenden oder gleitenden Schnittstellen in den Lagern als ideal nachgebende Komponente. Natürlich sind in der Realität die Glieder nicht unendlich steif und die Lager in deren Laufeigenschaften nicht perfekt. Aber das nützt dem Ingenieur nichts. Ganz im Gegenteil: Er kämpft meistens dagegen, denn ein Glied muss seine Form behalten und ein Lager soll möglichst kraftfrei laufen. Der Ingenieur dagegen, der sich für die Festkörperkinematik entscheidet, hat die gesamte Palette vor sich: er verteilt Belastbarkeit und Flexibilität genau dosiert dorthin, wo sie benötigt wird. Dadurch kann er viel mehr im Sinne der Leistungsfähigkeit seines Endproduktes gestalten. In der Optimierungssprache sagen wir, der Entwurf nachgiebiger Systeme findet in unvergleichbar grösseren Entwurfsräumen statt. Es können deshalb Wünsche und Anforderungen (einzeln oder kombiniert) erfüllt werden, die bei konventioneller Technik nicht denkbar wären.
Einer der Träume, die dadurch in greifbare Nähe rücken, ist die Realisierung von Leichtbaumechanismen. Leichtbaustrukturen (wie ein Flugzeugflügel oder -rumpf) setzen auf dünnwandige Bauteile und vermeiden Lastkonzentrationen. Konventionelle Mechanismen leben hingegen von Vollquerschnitten und lokalisierten Lasten. Lasten werden in konventionellen Lagern über Punkt- oder Linienkräfte übertragen. Daher wird das tragende Material suboptimal genutzt, was zu einem sehr ungünstigen Verhältnis zwischen Gewicht und Last führt. Anders verhält es sich bei nachgiebigen Systemen, wo eine Aussenlast immer zu einer Flächenlast und damit zu verteilten Spannungen im Gelenk führt. Nachgiebige Systeme sind deshalb leichtbaufähig.
Wie nah Leichtbautragwerke und nachgiebige Systeme aneinander sind, zeigt beispielsweise eine wichtige Gemeinsamkeit im Aufbau: beide sind fein strukturiert und hierarchisch aufgebaut, während bei konventionellen Mechanismen meistens kompakte Elemente einfacher Geometrie anzutreffen sind.
Schon bei einfachen Anwendungen kommt die Leichtbaufähigkeit nachgiebiger Mechanismen zum Tragen: Nachgiebige Ersatzlösungen für existierende, konventionelle Mechanismen oder Baugruppen schneiden deutlich besser in Punkto Gewicht ab als ihre konventionellen Gegenspieler, selbstverständlich bei gleicher Belastbarkeit. Aber die Festkörperkinematik bietet für den Leichtbau viel mehr als das: Sie ist die Schlüsseltechnologie für einen jahrhundertlangen Traum der Menschheit: Der biomimetische Flügel.